Die “Interaktive Enzyklopädie"
Global Brain: Fundament einer Wissens-Demokratie im Cyberspace

- Einführung

Nach Hippias von Elis (5. Jh. vor unserer Zeitrechnung) bedeutet Enzyklopädie universale Bildung, d.h. eine Art „studium generale". Später wurde der Begriff auf die Darstellung des gesamten menschlichen Wissens ausgedehnt. Die bedeutendste systematische Enzyklopädie der Neuzeit entstand durch Diderot und d'Alembert von 1751-80 in 35 großformatigen Bänden, die unter Mitarbeit führender europäischer Wissenschaftler zum Standardwerk der französischen Aufklärung avancierte. Diderots Baum des Wissens war nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit unterschiedlichster Experten zu realisieren. Das politische Ziel der Enzyklopädie ist heute wie damals dasselbe: die Emanzipation breiter Volksschichten durch freien Zugang zum Wissen. Diderot ist wegen seines Kampfes gegen die feudale Gesellschaftsordnung, die er schonungslos kritisierte, heute zu einem "Idol" für die Realisierung eine Hyper-Demokratie avanciert. Auch Jean Jacques Rousseau, für den das Volk die Quelle der Macht war, ist heute ein Vorbild für die Cyber-Generation. Er wandte sich gegen die Großgrundbesitzer, die er dafür verantwortlich machte, daß breite Teile der Bevölkerung verarmten. Sein Ideal war eine demokratische Republik des Kleinbesitzes.

Ebenso wie damals ist auch heute wieder ein neuer Machtkampf entbrannt, bei dem sich die Hyper-Demokraten gegen die hierarchische Industriegesellschaft und ihren manipulierenden Organisationen richten. Im Rahmen der Ethik der Hacker sind diejenigen, die den freien Zugang zu Wissen verhindern, Feinde der Demokratie. Mit der Interaktiven Enzyklopädie ist erstmals ein der Hackerethik entsprechendes demokratisches Meta-Netzwerk (ein globales Gehirn) realisierbar, das alle Bereiche des menschlichen Wissens umfaßt und dieses in demokratischer Weise und in Echtzeit zur Verfügung stellt. Doch die neuartige Wissens-Demokratie ist in Gefahr von der Kommerzialisierung des Internet und dem ausufernden Maschinen-Fetischismus zurückgedrängt zu werden. Der  Ausschluß der Menschen vom Wissen und die Verdrängung des Körpers durch die Maschine bilden im Zeitalter des Cyberspace ein nicht zu unterschätzendes Gefahrenpotential.

 

- Entmonopolisierung

Gedanken können nur frei sein, wenn jeder Mensch einen kostenlosen Zugriff auf das bestehende Wissen erhält. Die heute wieder zunehmende Tendenz Denkverbote auszusprechen, manifestiert sich am Umgang mit Kritikern des Lauschangriffs, die als Kollaborateuere des Verbrechens denunziert werden. Dies verwundert jedoch nicht, da auch Diderots Enzyklopädie immerhin 10 Jahre vom Papst verboten wurde, weil das dort gesammelte Wissen als gefährlich für den Machterhalt eingestuft wurde. Wieder besseren Wissens wird die Verbreitung des Wissens im Internet heute zunehmend monopolisiert und mit hohen Kosten belegt.

Insbesondere in der Wirtschaft haben die Kosten für die Nutzung von Datenbanken Dimensionen angenommen, die eine immer größer werdende Zahl von Teilnehmern am Wohlstand ausschließt. Vermögensdisparität ist zum ökonomischen Ausdrucksprinzip für die Ungleichheit beim Zugriff auf Wissen geworden. Vom Maturanas Baum der Erkenntnis können heute nur diejenigen kosten, die sich einen Computer, ein Modem sowie einen Telefonanschluß leisten können, d.h. die meisten Menschen der sogenannten Dritten Welt sind vom Zugang zu Wissen ausgeschlossen. Die Verbrennung der Bibliothek in Alexandria, die Bücherverbote der Päpste sowie die Bücherverbrennungen der Nazis finden heute ihre Fortsetzung in der Diskussion eines Kryptographie- und Hyperlink- Verbotes. Die altbekannte Strategie der Kontrolle, der Verhinderung und des Verbots führt zur paradoxen Diskussion, ob es erlaubt ist, seine eigenen Daten zu verschlüsseln oder auf einer Homepage Links zu anderen Knotenpunkten zuschalten. Ich halte es für würdelos, eine solche Diskussion überhaupt zuführen. Die einzige Antwort auf eine solche Aggression kann deshalb nur eine Hyper-Evolution zu neuen Strukturen sein.

Die Interaktive Enzyklopädie ist ein riesiges Spiel- und Simulationssystem mit Wissen. Der besondere Spaß der Nutzung besteht darin, daß jede Bifurkation innerhalb des Lexikons erlaubt ist. Kein Weg ist verboten, alle Straßen stehen jedem zur Verfügung. Die Forderungen der französischen Aufklärer sind jedoch erst dann erfüllt, wenn Geld nicht mehr das Eintrittskriterium in den Club der Cybernetze ist. Die besondere Herausforderung Deutschlands besteht darin, die gescheiterte Revolution von 1848 im Cyberspace erfolgreich zu vollenden und die totalitären Lauscher in die Schranken zu weisen. Dieser Prozeß ist jedoch keine gewalttätige Revolution wie damals, sondern vielmehr eine gewaltfreie Evolution, eine Cyberpeace-Bewegung der Zweiten Moderne. Der Computer ist eine Universal-Maschine, die nicht nur die Überwachung, sondern auch die Befreiung von dieser ermöglicht. Diese befreiende gewaltfreie Kraft, ist es, die den Teilnehmern der Interaktiven Enzyklopädie den Siegeszug gegen die Cyberwar-Aktivisten ermöglicht. Es ist abzusehen, daß die Kraft des Cyberpeace durch die vielfältige Interaktivität der Gehirne mit dem offenen globalen Gehirn stärker sein wird, als alle Versuche, den Menschen die Freiheit und damit die Würde zu nehmen. Durch die Interaktive Enzyklopädie, wird die objektive Datenwelt subjektiviert, d.h. der maschinellen Ausprägung kann durch intensiven Diskurs eine humanitäre überlagert werden.

 

- Global Brain

Bereits 1945 wurde von Vannevar Bush in seinem Aufsatz „As we may think" das Auftreten neuartiger Enzyklopädien vorausgesagt, die in assoziativen Pfaden besucht werden können. Die vernetzen Pfade bilden hierbei ein Globales Gehirn im Sinne Peter Russells. Dabei handelt es sich um einen fraktalen Raum der nichtlinearen Vernetzung, welcher sich sowohl chaotisch als auch selbstorganisierend weiterentwickeln kann. Die Surf-Region des Global Brain ist ein Universum des vernetzten Wissens, in dem es kein Zentrum und kein Ende gibt, sondern nur das Jetzt. Der Interaktive Enzyklopädie ist eine kollektive Intelligenz im Sinne Levys, in bzw. mit der Teilnehmer neue Wirklichkeiten entfalten können. Der Wille des Teilnehmers mehr zu wissen, ist hierbei die eigentliche Antriebskraft für die Entfaltung des Wissens in der Interaktiven Enzyklopädie. Die Interaktive Enzyklopädie ist ein pulsierendes Netzwerk, ein sich selbst organisierendes Gedächtnis, eine aus vielen Knotenpunkten (Zellen) bestehende Maschine (Automat), d.h. ein ganzheitlich interagierender Zellulärer Automat. Jeder Punkt dieses Automaten kann, muß jedoch nicht, mit jedem anderen direkt verbunden werden. Er kann beliebig ver- und entschaltet werden. Es ist gerade diese Wahlfreiheit der Ver- und Entschaltung, welches den Global Brain zu einem offenen und freien Interface für die Wahrnehmung der Wirklichkeit macht. Die Möglichkeit sich im World Wide Web zu verlaufen ist sehr groß. Deshalb muß die Interaktive Enzyklopädie eine Option bieten, den Teilnehmer immer wieder aus dem Labyrinth zurückzuholen, wenn er sich dort verlaufen hat.

Die Interaktive Enzyklopädie entlastet den Menschen bei der Wissens-Navigation. Der Zugriff auf den Global Brain des Wissens geschieht per Knopfdruck in Echtzeit. Wissen braucht nicht mehr im menschlichen Gehirn gespeichert zu werden, es kann in Cybernetzen abgelegt werden. Entscheidend für die Erinnerung sind hierbei Kontexte und Adressen. Da die meisten Menschen nicht über ein fotographisches Gedächtnis verfügen, bietet die Interaktive Enzyklopädie nicht nur eine Gedächtnisstütze, sondern es wird Teil des Gedächtnis des Subjekts und es formt ein kollektives Gedächtnis. Das besondere an diesem Gedächtnis ist, daß es keinen Raum mehr benötigt und die Zeit zur Echtzeit zusammenschrumpfen läßt. Damit entfaltet sich ein Lexikon, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Echtzeit vereint und durch die Initiative der Teilnehmer über das bestehende Wissen hinaus führt.

Das Neue an dem maßgeschneiderten Lexikon ist, daß es auf allen Genauigkeitsstufen jede Frage interaktiv beantwortet. Die Gleichzeitigkeit der parallelen Abläufe im Virtuellen verbunden mit der Fähigkeit zum kollektiven Gedächtnis erlaubt eine Enzyklopädie, wie sie sich Diderot und d'Alembert nur erträumen konnte. Der Kreativität der Teilnehmer ist in dieser neuartigen Wissens-Demokratie keine Grenze mehr gesetzt. Die Begrenzungen öffnen sich  zu einem Kreativitätspool, der der menschliche Erkenntnisfähigkeit neue Dimensionen erschließt. Das Denken vollzieht sich beim Einzelnen dadurch, daß er sich mit der Enzyklopädie vereint und mit ihr ein gemeinsames Interface bildet. Durch die Synthese des menschlichen Gehirns mit der Telematik zum Global Brain entsteht neues Wissen, welches instantan ins Netz übertragen werden kann. Die Welt des Global Brain ist eine Welt der Interaktivität und der Interferenz, d.h. der Überlagerung einer Vielzahl von Wissens-Welten.

Interferenz erlaubt nicht nur das Bewerten einer Vielzahl von Alternativen, sondern das gleichzeitige Eintauchen in unterschiedliche Universen.

Everetts Prinzip der Viele Welten bietet eine brauchbare Analogie, um die Interferenzen der Teilnehmer im Rahmen der Interaktiven Enzyklopädie zu beschreiben. Levinas Bedeutung des Anderen für unser Handeln erhält erst durch diese Interferenz seine eigentliche Dimension. Die Interferenz wird somit auch zu einer notwendigen Bedingung dafür, daß die Interaktivität die Kommunikationspotentiale ausschöpfen kann. Die sich überlagernden Netzwerke von Forschern, Managern, Diskussionsforen oder Newsgroups bilden eine neuartige digitale Gemeinschaft oder Zivilisation im Sinne Bob Rockwells, die sich durch permanente Rückkopplungen selbst organisiert. Um die Interaktiven Enzyklopädien herum, die Saskia Sassens Metropolen im Cyberspace entsprechen, werden sich immer mehr Wissensorganisationen etablieren, die neuartige Zivilisationen begründen. Durch das telematische Koppeln öffentlicher und privater Räume entstehen Wissensstädte, deren primäres Transportgut Wissen sein wird.

 

- Wissens-Monaden

Monade bedeutet im griechischen die Einheit, das Einfache und Unteilbare. Im Rahmen dieses Artikels wird unter Monade ein fluides Interface verstanden, daß keine Grenze kennt. So wie die einfachen, unbeseelten letzten Einheiten (Substanzen) bei Leibniz Monaden bilden, aus denen sich die Weltsubstanz zusammensetzt, so lassen sich auch die Wissenswelten durch Monaden erklären, die den Zugang zum gesamten Wissen der jeweiligen Interaktiven Enzyklopädie eröffnen. Da das interaktive Lexikon versucht, fluide das Ganze zu umfassen, spiegelt es eine alternative Wirklichkeit wieder, die aus der Realität der telematischen Vernetzung der Teilnehmer entfaltet werden kann. Hierbei bildet die Interaktive Enzyklopädie ein grenzfreies und fensterloses Interface, welches ich als Wissens-Monade bezeichnen möchte. Deren Ziel besteht darin, sich ständig selbst zu transformieren und das Wissen und die Problemlösungsfähigkeit zu steigern. Die Wissens-Monade bildet hierbei die Summe aller geistigen Intuitionen in allen möglichen parallelen Welten der interaktiven Teilnehmer.

Die Monade des Wissens existiert jeweils nur für ein einziges Jetzt, wobei jeder einzelne Teilnehmer nur einen Bruchteil des gesamten Wissens für sich entfalten kann. Indem er dies tut und das Bestehende zu Neuem vernetzt, wird der bereits verantwortlich für das nächste Jetzt, welches die Evolution des Wissens unaufhaltsam vorantreibt. Die Frage wie man in einer Wissens-Monade von einem Jetzt ist das nächste Jetzt springt ist relativ einfach zu beantworten: durch Umfaltung der Wirklichkeit. Der Trick ist die fluide Verformung, der virtuelle Rollentausch, eine Art Chamäleon-Effekt der physikalischen Wirklichkeit. Dieser ermöglicht durch plötzliche Transformation, vergleichbar mit spontanen Ideen, Phasenübergängen zu einem neuen Jetzt. Das Nebeneinander und die Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Jetzt-Zuständen sind zusammen mit dem Zugang zur allumfassenden Wirklichkeit das wesentliche Kennzeichen von Wissens-Monaden. Bacons Wissen ist Macht verliert in den Monaden des Wissens seine Bedeutung, da jeder den gleichen Zugang zu Wissen besitzt.

Die von Derrida betonten Grenzen der Schrift, können durch die Interaktive Enzyklopädie überwunden werden, d.h. Wissen kann auf jede nur denkbare Weise, netzwerkartig, rekursiv, deterministisch chaotisch oder hierarchisch dargestellt werden. Die Teilnehmertrajektorie des Lexikonsnutzers kann frei, individuell, variabel und zielorientiert, je nach Anforderungsbedarf des Teilnehmers, gewählt werden. Die Interaktive Enzyklopädie hat weder einen Anfang noch ein Ende, sie beginnt immer da, wo der Teilnehmer eintaucht und sie endet an dem Punkt der Trajektorie, wo der User wieder auftaucht, um denEndo-Raum des Computers zu verlassen. Die Interaktive Enzyklopädie fordert die Internet-Surfer zum Eintreten auf, ja sie übt eine ungeheure Anziehungskraft aus, da es ein gewaltiges Interface für die Erzeugung von Wissen zur Verfügung stellt. Da jeder Teilnehmer im Cyberspace sein eigenes Netzzentrum bildet, kann er mit der Interaktiven Enzyklopädie zu einer Meta-Monade verschmelzen, wobei die Intelligenz dieser Monade auf die Netzwerkknoten verteilt ist.

Das riesige Multiebenen-Lexikon bildet hierbei nicht nur ein kulturelles Gedächtnis, sondern es integriert auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem monadischen Zentrum menschlichen Seins. Wer über Interfaces in Endo- Welten abtaucht, bildet mit dem Wissen des Netzes eine Monade, die im subjektive Zugänge zu neuem Wissen ermöglicht. Ted Nelsons Hyperlink-Prinzip ist die monadische Infrastruktur, die dem Metamedium Computer sein kollektives Gedächtnis verleiht. Die Immaterialität der Monaden des Wissens führt im Sinne Henri Pierre Jeudys zu einer Allgegenwart von Daten und einem unendlichen Spiel mit Alternativen. Die Alternative des real existierenden Sozialismus ist in der physischen Welt gescheitert. Er erlebt seine Wiedergeburt jedoch im virtuellen Raum des Cyberspace, wobei das kostenlose Verteilen von Wissen der gordische Knoten für die Lösung einer Vielzahl von Problemen ist: Massenarmut, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Rassendiskriminierung etc. In diesem Kontext können auch die Thesen von Marx bezüglich des Cyberspace einer neuen Bewertung unterzogen werden.

 

- Hyperraum als Heimatstadt

Die Vision der französischen Enzyklopädisten, die Strukturen, die Vielfalt und die Vernetzung des menschlichen Wissens in seiner Gesamtheit aufzuzeigen ist wegen der Begrenztheit des Medium Buches immer weniger möglich. Jedoch erlaubt die Hyperlink-Struktur des World Wide Web diese Vision in einem neuen Licht zu betrachten. Die Erfindung Diderots und d'Alemberts aus dem 18. kann zu Beginn des 21. Jahrhunderts in das blaue Universum des Internet übertragen werden.

Deren Wissensbaum vom Vorabend der französischen Revolution findet durch die Interaktive Enzyklopädie seine universelle Fortsetzung im Rahmen eines globalen Netzwerkes kooperierender Teilnehmer - einem Blue Planet Team Network. Die Evolution von Enzyklopädien vom Baum des Wissens, über Kreisläufe des Wissens hin zu immer enger verknüpften Netzwerken repräsentiert den Trend von den linearen Texten hin zu nichtlinearen Hypermedien mit einer riesigen Zahl von Querverweisen und Immersionen in neue Wissenswelten. Damit die Teilnehmer beim Navigieren durch die Datenfülle und die Vielzahl an Kommunikationsmöglichkeiten nicht die Übersicht verlieren, ist es erforderlich einen rekursiven Ordnungsrahmen - den Wissens-Navigator - vorzugeben, der durch das Schalten von Querverbindungen, der Hyperlinks, flexible Verschaltungen ermöglicht. Die DNS des Wissens-Navigators ist dafür entscheidend, daß möglichst viele Menschen, unabhängig vom Betriebssystem und Datenformaten interaktiv an diesem Lexikon teilnehmen können. Nur so läßt sich die Forderung nach einem evolutorischen Systm realisieren, daß sich mit der Zunahme des Wissens der Teilnehmer weiterentwickelt.

Was in der Zeit der Interaktivität und der Vernetzung heute möglich wird, ist ein Lexikon nach dem Hypertext-Prinzip. Der Internet-Teilnehmer wird hierbei zu einem interaktiven Bestandteil der Enzyklopädie. Der Endo-Raum der Enzyklopädie integriert somit den Leser in sein fluides Interface, daß sich durch die permanente Erweiterung des Wissens ständig umformt. So wie die Enzyklopädie den klassischen Baum des Wissens auf eine Landkarte übertrug, um die Vernetzung und Knotenpunkte zwischen den unterschiedlichen Wissensgebieten aufzuzeigen, so überträgt die Interaktive Enzyklopädie diese Landkarte heute in den multidimensionalen Hyperraum von Ideen und neuen Bedeutungen. Der Hyperraum als interaktiver Spielraum erlaubt Rekursivität, Hyperlinks und Parallelität zu einer neuartigen Synthese zu vereinen, einem sich ständig wandelnden Interface des Wissens. Hyperlinks erlauben die sachbezogenen, sprachlichen und strukturellen Verweise, um den instantanen Zugriff auf unterschiedlichste Quellen (Text, Sprache und Bilder) zu erweitern. Lesen, Schreiben und Online-Publizieren geschieht durch das Netz in Echtzeit, wobei die Fußnote durch den Hyperlink zum Originaltext ersetzt wird. Dies bedeutet eine Enthierarchisierung heutiger linearer Lexikas durch die nichtlineare netzwerkorientierte Parallelwelt des interaktiven Lexikons.

Die interaktive Nutzung der Hypermedien ermöglicht dem Teilnehmer ein ungeahntes Recycling, Neuverknüpfung und Löschen von Texten. Die Dokumente der Hypermoderne verweisen stets auf etwas, wobei Hyperlinks die Wegweiser sind, die uns in andere Texte, Datenbanken, Archive, Newsgroups, Online Communities oder Cyber-Zivilisationen abtauchen lassen. Vor dem Computerbildschirm vollzieht sich durch das teilnehmerorientierte Lexikon die eigentliche Evolution des telematischen Zeitalters: Wissen wird für alle Teilnehmer transparent sowie nahezu kostenfrei und gleichzeitig verfügbar. Die Interaktive Enzyklopädie wird somit zu einer Heimatstadt des Wissens und der Forschung. Der Vorteil der Interaktiven Enzyklopädie, die einen kontextorientierten Ordnungsrahmen vorgibt, ist der, daß sich der Surfer nicht mehr im Internet verirrt, sondern, daß im Rahmen der Kooperation mit Intelligenten Agenten eine transparente Navigation ermöglicht wird, bei der sich der Weltreisende stets zurechtfindet.

Das teilnehmerorientierte Lexika fördert das assoziative Denken und das zufällige Begegnen von Nutzern, wodurch erst eine neuartige Interferenz zwischen den Akteuren und interdisziplinäres Handeln entsteht. Das Universum des kostenlosen Wissens erlaubt neuartige Spielregeln und Formen der Kooperation, die einen Evolutionssprung der Menschheit auslösen können. Wissensstrategie, Navigation, Kommunikation und Evolution treffen sich durch die Interaktive Enzyklopädie in einem gemeinsamen Punkt. Das interaktive Wissenslexikon wird das Herz der Heimatstadt aller Menschen im Internet (Rösslers Wissenstadt „Lampsacus") bilden. Man empfindet sofort Zuneigung für solch ein Projekt, ebenso wie Friedrich Arnold Brockhaus als er auf der Leipziger Buchmesse 1808 das halbfertige "Conversations-Lexicon" der Privatgelehrten Löbel und Francke entdeckte und die Rechte an dem fragmentarischen Kompendium erwarb. Das Volksbuch „Enzyklopädie" machte die Welt der Bücher freundlicher. Ebenso kann heute das Volksnetz Interaktive Enzyklopädie die Welt des Internet im Sinne Negropontes freundlicher gestalten. Wer diese neuartige Enzyklopädie aufschlägt, kann sicher sein, daß seine Wünsche nach Wissen instantan befriedigt werden.

 

- Unendliche Fraktale

Interaktive Enzyklopädien bilden eine Chance das Bibliothekswesen zu erneuern. Die von Wellenreuther an deutschen Seminarbibliotheken kritisierte rudimentäre, oft kaum durchschaubare Aufstellungssystematik, die nicht wie das amerikanische Dewey-System für eine thematische Auflistung sorgt, kann durch die Interaktive Enzyklopädie revolutioniert werden. Das zersplitterte deutsche Bibliothekssystems läßt heute kaum eine interdisziplinäre Forschung zu, was zusammen mit dem schlecht funktionierenden Fernleihverkehr und in der Unterversorgung der Universitätsbibliotheken mit neuer Basisliteratur dazu beiträgt, daß der Wissenschaftsstandort Deutschland im internationalen Vergleich immer mehr an Bedeutung verliert. Durch Interaktive Enzyklopädien kann zukünftig die Frage der Zugänglichkeit nach Wissen, in einem Umfang gewährleistet werden, von dem selbst die Erfinder der Enzyklopädie geträumt haben. Diese ermöglicht einen ganzheitlichen Zugriff auf Wissen aus unterschiedlichsten Fachgebieten in Echtzeit.

Für Borges hat eine Bibliothek kein Ende, sie bildet somit einen unendlichen Raum des Wissens. Die instantane Überwindung dieser Unendlichkeit kann durch Hyperlinks und Kontextstrukturen ermöglicht werden. Dadurch werden die heute gängigen Systematiken überwunden, die den Leser in induktivem und deduktivem Denken gefangenhalten. Induktives Denken in Wissensbäumen sowie deduktives Denken in Wissensketten wird durch abduktives Denken in Wissensnetzen abgelöst bzw. ergänzt. Diese Netzwerke formen neuartige Brillen der Wahrnehmung, d.h. sie bilden enzyklopädische Interfaces mit unendlich vielen Dimensionen. Damit formen Interaktive Enzyklopädien komplexe Ordnungsmuster in Zeit und Raum und werden zu allgegenwärtigen Sphären der Begegnung von Mensch und Maschine, von physischen und virtuellen Teilnehmern. Mit der Vereinigung von Computer und Netzwerken durch das World Wide Web wurde ein Medium geschaffen, daß eine unendliche Menge von Daten, flexibel und in beliebigen Kontexten vernetzen kann.

Die Interaktive Enzyklopädie, das teilnehmerorientierte Lexikon, die Immersion in eine Cyber-Bibliothek repräsentiert unendlich verschachtelte Räume des Wissens, in denen die Vielfalt aller Medientrajektorien vereint werden können. Durch Tastendruck entert der Wissenssuchende das Universum der virtuellen Metamorphosen, des fluiden Raumes, der ganz nach Belieben ein Buch, einen Film, einen Diskussionsraum oder einen Konzertsaal darstellen kann. Die Navigation nach virtuellen Daten wird zu einer Sucht, einer Droge, zu einem schicksalhaften Trieb, der dem Ziel dient, permanent neue Bedeutungen hervorzubringen. Die Interaktive Enzyklopädie ist somit nicht nur eine Ideen- Welt, sondern vor allem eine Sinn-Welt, die sich immer mehr zu einem Global Brain verschaltet. Hierbei wird durch das Phänomen der Echtzeit eine Aufmerksamkeit erzeugt, die sich parallel auf viele Welten verteilt. Deshalb entsteht nicht nur ein Global Brain, sondern die Interaktive Enzyklopädie läßt unendliche viele globale Gehirne entstehen, die sich durch Interferenz überlagern und neuartige Monaden des Wissens bilden.

 

- Evolution des Wissens

Interaktive Enzyklopädien beinhalten ihre eigene Schulung für deren Inhalte. Diese Rückbezüglichkeit auf sich selbst, erlaubt dem teilnehmerorientierten Lexikon sich evolutiv weiterzuentwickeln. Deshalb bilden diese eine Art fluider Bibliothek, in der sich wesentlich leichter als in physischen Bibliotheken recherchieren läßt. Unterstützt durch Intelligente Agenten erlauben Interaktive Enzyklopädien einen schnellen und unbürokratischen Zugang zu Daten aller Art. Alle für den jeweiligen Wissensbedarf relevanten Materialien und Veröffentlichungen sind per Tastendruck erreichbar und können bei Bedarf neu kombiniert und dann gespeichert werden. Voraussetzung hierfür ist jedoch, der freie Internet-Zugang für alle. Es wird deshalb die Zeit kommen, wo dieser Zugang als Grundrecht in der Verfassung zu verankern ist.

Elektronische Enzyklopädien erlauben direkte Sprünge in ein Glossar, zum Stichwort- oder Namensverzeichnis oder zu weiterführender Literatur. Durch das interaktive Lexikon braucht Wissen nicht mehr linear dargestellt zu werden, sondern es ist eine nichtlineare parallele Darstellungsform möglich, die sämtliche Formen, wie Schrift, Graphik, Bild, Video und Audio umfaßt.

Zukünftig wird es sogar möglich sein, in virtuellen Räumen mittels Avataren zu wandeln, die eine interaktive Teilnahme an einer Vielzahl von alternativen oder historischen Ereignissen ermöglichen. Die Interaktive Enzyklopädie ermöglicht Zeitreisen in 3D-Welten, die jedoch nicht die Zukunft verändern, sondern den Teilnehmer in eine alternative Simulation des historischen Geschehens mit einbeziehen. Das Denken und die Generierung neuer Bedeutungen ereignet sich in den Prozessen der Erweiterung der bestehenden Interfaces, deren Überlagerung und deren Entschaltung. Autoren und Nutzer der Interaktiven Enzyklopädie haben hierbei die Möglichkeit ihre Rollen zu tauschen.

Bei der Konstruktion von Enzyklopädien ist mit großer Sorgfalt vorzugehen, da diese Medien vor allem die Kinder beeinflussen. Insbesondere Schulen und Universitäten werden von den Interaktiven Enzyklopädien am meisten profitieren, da diese völlig neue Formen des Lernens und Entlernens von Wissen ermöglichen. Hierbei gilt es vor allem, Kindern und Schülern durch das Beleuchten unterschiedlicher Kontexte die Notwendigkeit der Reflexion von Medien zu ermöglichen. Da es gerade die neuen Medien sind, die das Verhalten unserer Kindern formen, wenn Eltern immer weniger Zeit für diese haben, kommt es darauf an, daß die Interaktive Enzyklopädie maßgeschneiderte Lösungen für die Ausbildung anbietet. Dies erfordert jedoch zunehmend intelligente Systeme bzw. Agenten, die in der Lage sind, den spezifischen Anforderungsbedarf der Teilnehmer zu erkennen. Nicht der Computer darf der Ausbilder sein, sondern intelligente Netzwerke, welche in der Lage sind, die Erfahrungen der Teilnehmer zu sammeln und zu bewerten.

Das entscheidende Kriterium für das Funktionieren einer Interaktiven Enzyklopädie ist die systematische Erneuerung deren Inhalte und die Verhinderung der Verbreitung von Lügen bzw. falschen Aussagen. Dies erfordert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit von den Teilnehmern und intelligente Computersysteme, die in der Lage sind, Manipulationen zu erkennen und aus der Vielfalt der Daten heraus zu filtern. Das menschliches Wissen wird trotz Computer und interaktiven Netzwerken immer unüberschaubarer, so daß es neuer Ordnungsstrukturen bedarf, damit der Mensch nicht den Überblick verliert. Die Intelligenz solcher komplexer Netzwerke steckt nicht mehr in den einzelnen Teilnehmern, sondern in der Wissenslandschaft, d.h. den komplexen Mensch- Maschine-Vernetzungen, mit denen die Benutzer der Enyzklopädie interagieren. Der virtuelle existierende Cyberspace ist der Platz der Synthese von Wissen zu neuem Wissen, von Daten zu neuen Bedeutungen, von neuen Bedeutungen zu Sinn.

Der Lösungsansatz für diese Sinnfindung der Hypermoderne ist die Interaktive Enzyklopädie, als Manifestation des freien Austausches von Daten aller Art, die subjektiv zu neuem Wissen integriert werden können.

 

- Fazit

Interdisziplinarität ist neben der Interaktivität und der Interferenz eine zentrale Herausforderung für die Gestaltung teilnehmerorientierter Enzyklopädien. Sie erfordert die Entwicklung neuartiger Strukturen und Prozesse für die Navigation, Erzeugung und Kommunikation von Wissens-Monaden, die sich von der Zeitgebundenheit befreien und den Nutzern echtzeitorientierte Interfaces bieten. Die Interaktive Enzyklopädie geht nicht von der Speicherung des Wissens aus, sondern vielmehr von den Anforderungen der Teilnehmer, die ihr Wissen mit anderen teilen und vermehren wollen. Die Interaktive Enzyklopädie, das Basisnachschlagewerk für Online Communities und Cyber-Zivilisationen, ist rund um die Uhr für jeden geöffnet und erläutert Zusammenhänge durch intelligente Nutzung der Web- und VR-Technologie. Die permanente Bifurkation der Inhalte führt hierbei zu einer Auflösung von Hierarchien. Alles wird zu einem parallelen Hyperraum, der sich in einer Phase der permanenten Transformation befindet, einer Zirkulation, die permanent Erfindungen und Innovationen hervorbringt.

Der Elfenbeinturm der Wissenschaft wird durch den Cyberspace für jeden sichtbar und damit entmonopolisierbar. Je mehr die Evolution des Wissens voranschreitet, desto wichtiger werden die Kräfte, die das Wissen demokratisieren. Durch die Interaktive Enzyklopädie wird das herrschende Wissenschaftsgefüge nicht nur in Frage gestellt, sondern sogar ad absurdum geführt. Die digitale Gegenmacht der Vernetzung fordert hierbei die Fortsetzung der französischen Revolution mit den Mitteln der gewaltfreien Evolution von Hyperlinks und Algorithmen. Die Stärke dieser Gegenmacht kommt aus der unendlichen Vielfalt der Kommunikationsknoten und deren Verlinkung, die jeder einzelne Teilnehmer, für und um sich herum aufbauen kann. Die Interaktive Enzyklopädie wird dadurch eine neue Basis für eine Aufklärungsbewegung der Zweiten Moderne bilden, welche die Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durch kostenlose Zugänge zu Wissen, die Dekonstruktion hierarchischer Systeme und die gegenseitige Vernetzung der Teilnehmer einfordert.

 

Artur P. Schmidt, Auszug aus dem Buch „Der Wissens-Navigator", welches im Juli im Bollmann- Verlag erscheinen wird.

Beitrag veröffentlicht am 12. Mai 1998

Feedback an den Autor

Zur Übersicht Thema Wissenschaft

Zum Diskussionsforum

Home

www.visionen.ch

Picture

Projekt zur Förderung von Innovation und Kreativität

Wir freuen uns über jede Anregung oder Hilfe
 zur Entwicklung dieses Experimentes :-)