Die missbrauchte und verzweckte Zeit

Jedes Ding hat seine Zeit, sagt man. Doch haben wir heute, in unserer schnelllebigen Zeit, noch einen Sinn für die Zeit? Oder geben wir der Zeit nicht längst schon unseren eigenen Takt an? Ein Blick zurück zeigt auf, wie fundamental sich die Zeiterfahrung gewandelt hat.

Versuchen wir uns etwas in die Vergangenheit zu versetzen: in eine frühmittelalterliche Welt ohne Uhren. Welches Zeitgefühl hatte man damals, ohne Glockenturm und Swatch? Wie erlebte man die Zeit beim Reisen zu Fuss über die Alpen oder beim Wallfahren auf dem Jakobs-Pilgerweg nach Santiago? Was war 'die Zeit' damals noch, als Pilgerreisen Monate dauerten - während die elektronische Geschwindigkeit der Telekommunikation heute dreihunderttausend Kilometer pro Sekunde beträgt?

Die Zeit vor den Uhren war tatsächlich eine andere Zeit. Die Zeit war geprägt vom subjektiven Bio-Rhythmus und vor allem von den natürlichen Zyklen der Natur. Sommer und Winter, Tag und Nacht, Sonne und Regen - das waren die prägenden Faktoren einer bäuerlichen Welt.

Zwar gab es zum Behelf schon früh spezielle Sonnenuhren. Und für das Messen kürzerer Zeiten gab es Sanduhren. Trotzdem war die Zeit damals nur wenig strukturiert. Es war eine fliessende Zeit, die nur unterbrochen wurde durch familiäre Feste freudiger oder trauriger Art und vor allem durch die vielen dutzend Kirchenfeste, die es damals noch gab.

Der Stundenrhythmus der Benediktiner

Dann aber kamen die Benediktiner und erfanden gleichsam die Institution der 'Stunde'. Da die Benediktinermönche die Zeit als ein Geschenk Gottes betrachteten, wollten sie dieses Geschenk entsprechend würdigen. Die Zeit - so ihr Gedanke - sollte mit Arbeit und Gebet, mit 'ora et labora', geheiligt, respektive gottgefällig genutzt werden.

Dazu führten sie in ihrem Klosterleben einen strengen Stundenrhythmus ein. Sie übernahmen von den Römern den Begriff der Horen, der Stunden, und wiesen allen Stunden eine bestimmte Tätigkeit zu: Chorgebet, Schriftlesung, Gartenarbeit und anderes mehr.

Und um dieses System der stündlichen Wechsel noch perfekter zu machen, erfanden die Benediktiner im Hochmittelalter die mechanische Uhr. Diese grossen mechanischen Uhren hatten ursprünglich keinen einzigen Zeiger und schlugen die Zeit nur einmal - zur vollen Stunde.

Es fällt uns heute schwer, uns vorzustellen, wie stark der feste klösterliche Stundenplan das Zeitempfinden und den ganzen Lebensfluss der Mönche prägte. Bedeutet ein solcher Stundenrhythmus nicht ein repressives Korsett? Oder kann man sich da einschwingen? Vielleicht müsste man heutige Benediktinerinnen fragen, die ja auch heute noch in strenger Klausur von Stunde zu Stunde leben?

Das neue Kultobjekt: die mechanische Uhr

Die neuen mechanischen Uhren wurden nicht nur in abgelegenen Klöstern genutzt. Auch in den Dörfern war die Uhr bald einmal verbreitet. Die Glocken der Landkirchen, über Jahrhunderte von Hand geschlagen, wurden nun mehr und mehr mit mechanischen Uhrwerken versehen. Und schon bald gehörte es zum Stolz jeder kleinen aufstrebenden Stadt, als Attraktion eine grosse, technisch ausgefeilte Stadtuhr zu besitzen. Ja, die Uhr war Ende Mittelalter das zentrale, modische Kultobjekt.

Parallel zum Siegeszug der Uhren wandelte sich auch das Zeitgefühl. Und auch ein neues Zeitkonzept machte sich breit. In der alten Kirche wurde die Zeit als etwas Heiliges betrachtet und durfte darum nicht für egoistische menschliche Bedürfnisse genutzt werden. Die aufstrebende Klasse der Händler, Kaufleute und Bankiers sah dies allerdings etwas anders. Für sie war die Zeit profaner Natur: Sie war ein exzellentes Mittel, schnell zu Geld zu gelangen. Die entscheidende Frage bei diesem Zeitspiel hiess: Wann ist der beste Zeitpunkt zum Kaufen? Und wann soll ich verkaufen?

Tatsächlich wurde Ende Mittelalter ein Kampf gekämpft, der kaum je in den Geschichtsbüchern auftaucht, obwohl er fundamentale Folgen hatte. Es war der Kampf zwischen dem Zeitkonzept der Kirche, die die Zeit Gott widmen wollte, und dem Zeitkonzept des neuen Bürgertums, das die Zeit nun an sich riss und wirtschaftlich zu nutzen begann. Tatsächlich hat die Zeit damals ihre Unschuld verloren. Sie war nun kein göttliches Mysterium mehr, sondern nur noch - ein Wirtschaftsfaktor.

Das mörderische Zeitdiktat der Fabriken

Drei, vier Jahrhunderte später haben die Uhren ihre Zwiespältigkeit vollends gezeigt. Die Uhren traten ihren Siegeszug nämlich nicht nur auf den Marktplätzen an, sondern auch in den Wohnungen, Schulen, Clubs und Büros - und vor allem in den Fabriken. Hier, in den Fabriken, zeigte sich, wie gut sich das neue technische Hilfsmittel zur Disziplinierung und Ausbeutung der Menschen eignete.

Verarmte Bauern und Handwerker, die ihr Leben bisher weitgehend nach ihrem eigenen Tempo gestaltet hatten, wurden nun mit einem rigiden Straf- und Belohnungssystem, mit Zuckerbrot und Peitsche, zu einer künstlichen Pünktlichkeit gezwungen. In den Fabriken wurden sie einem eisernen Zeitdiktat unterworfen. Zuerst mit Arbeitsglocken und ab dem letzten Jahrhundert dann mit Stechuhren wurden die Arbeiterinnen und Arbeiter, viele darunter noch Kinder, in einen gnadenlosen Rhythmus eingespannt. So in die Knute genommen, lernten sie, dass die Zeit kein himmlisches Geschenk war, wie Benedikt dies noch sah, sondern schon eher das höllisches Gefängnis, das Marx in jener Zeit beschrieb.

Es erstaunt denn auch nicht, dass Arbeiter damals einen eigentlichen Kreuzzug gegen die Uhren führten. Um sich von diesen 'Teufelsmühlen' zu befreien, wurde in Paris während der Revolution von 1830 die Devise ausgegeben, auf alle Turmuhren und öffentlichen Zifferblätter zu schiessen. Und Georg Büchner doppelte literarisch nach und und hielt trotzig fest: 'Wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monde nur noch nach der Blumenuhr.'

Denn Zeit ist Geld...

Die Fabrikherren sahen dies natürlich etwas anders. Aus ihrer Sicht förderte das neue, moderne Zeitmanagement einen Wert, der schon damals immer wichtiger wurde und der heute den wahren Götzen unserer Kultur darstellt: die wirtschaftliche Effizienz. Dieser neue wirtschaftliche Gott basiert auf einer einfachen Formel. Effizienz heisst: die Zeit minimieren und den Ertrag maximieren.

Kommt uns dies nicht bekannt vor? Diese Weltsicht ist heute omnipräsent. Im anbrechenden Informationszeitalter, wo die Übermittlung von Informationen praktisch in Nullzeit möglich ist, ist die Zeitminimierung - und damit natürlich auch die Zeitbeschleunigung - ein entscheidender Motor des ganzen Globalisierungsprozesses. Man denke nur an die elektronische Börse. Aber nicht nur im Wirtschaftsbereich, auch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen, im Staat ('New Public Management'), im Sport- und auch im Kulturbereich und sogar in der Kirche ist die Effizienz zum goldenen Kalb geworden.

Und so haben sich Zeit und Welt gewandelt. Früher hatte die Zeit einen Eigenwert und eine eigene Ästhetik. Heute hingegen ist sie nur noch Mittel zum Zweck. Die heutige Zeit ist eine verzweckte Zeit. In der heutigen Zeit steckt immer schon Kalkül. Denn Zeit ist Geld, sagt am - und denkt und fühlt und handelt entsprechend.

 

Philippe Dätwyler

Beitrag veröffentlicht am 8.Januar 1998

Feedback an den Autor

Zur Übersicht Thema Philosophie

Zum Diskussionsforum

Home

www.visionen.ch

Picture

Projekt zur Förderung von Innovation und Kreativität

Wir freuen uns über jede Anregung oder Hilfe
 zur Entwicklung dieses Experimentes :-)