Die Woche anhalten

Der Sabbat als Kontrast zur verzweckten Zeit

Eine der sonderbarsten religiösen Institutionen, die etwas mit  Zeitgestaltung und Zeitphilosophie zu tun haben, ist der Sabbat der Juden. Leider kennen viele Menschen den Sabbat mit seinen vielen Geboten und Verboten nur als Witzsujet.

Natürlich wirkt es bisweilen skurril, wenn man sieht, was strenggläubigen Juden am Sabbat alles verboten ist. Sie dürfen nicht kochen und nicht backen. Sie dürfen kein Feuer entzünden und das Haus nicht verlassen. Und vieles andere mehr, das die Gestaltung dieses ausserordentlichen Tages nicht gerade einfach macht.

Fragt man allerdings nach den Gründen für das spezielle Verhalten an diesem speziellen Tag, wird es interessant. Das Hauptkriterium für erlaubte, respektive verbotene Tätigkeiten ist nämlich das 'wirtschaftlich zweckgerichtete Verhalten'. Doch was heisst das? 

Der Sabbat als Befreiung vom Fluch der Arbeit

Nach jüdischer Auffassung darf am Sabbat die Zeit nicht verzweckt werden. Am Sabbat sollte vielmehr die Schönheit der Zeit jenseits der Kategorie der Nützlichkeit entdeckt werden. Der Sabbat ist darum alles andere als ein Trauertag. Er ist keine Form von weltabgewandter Askese. Der Sabbat ist ein Freudentag.

Am Sabbat soll die Schöpfung Gottes gefeiert werden. Zum Sabbat gehören darum Kerzen, Festmahlzeiten, schöne Kleider, wie auch die Toralesung, die Lesung aus dem Buch der Väter. Aber auch Sex ist erlaubt. Verboten, und das früher sogar bei Todesstrafe, ist einzig das zweckgerichtete Schaffen in der materiellen Welt.

Darf also ein frommer Jude am Sabbat seine Armbanduhr aufziehen? Die Antwort heisst jein. Alles hängt von seinen Motiven ab. Ist seine Uhr abgelaufen und er möchte sie zur Zeitkontrolle wieder aufziehen, so ist dies verboten. Denn alles zweckorientierte, 'sinnvolle' Handeln ist am Sabbat verboten. Ein zweckfreies Aufziehen eines Uhrwerks, das noch nicht ganz abgelaufen ist, ist hingegen erlaubt, denn das gilt als unsinnige Marotte, die das Sabbatgebot nicht verletzt.

Der Sabbat als Kontrasterfahrung

Eigentlich ist der Sabbat eine institutionalisierte Kontrasterfahrung. Er ist ein Versuch, einmal in der Woche eine andere Zeit zu konstruieren. Der jüdische Religionsphilosoph Abraham Heschel redet in diesem Zusammenhang gar von einer eigentlichen 'Architektur der Zeit'. Ja, das ist wohl der oft verborgene Sinn der vielen Sabbat-Regeln und Sabbat-Rituale: Sie schaffen eine andere Zeitsphäre und ermöglichen so eine Kontrasterfahrung zu den Werktagen, die von zweckgerichtetem Denken und Handeln dominiert sind.

Der Sabbat soll die Gläubigen daran erinnern, dass die Gesetze des Werktags nicht alles sind. Er soll die Menschen daran erinnern, dass im Paradies niemand im Schweisse seines Angesichtes arbeiten musste. Und dass in der verheissenen zukünftigen Welt das Diktat der Nützlichkeit und Wirtschaftlichkeit abgeschafft ist.

Der Sabbat war für die Juden immer der Inbegriff des Heiligen. Und sie haben ihn darum immer zu bewahren versucht. Ja, man sagt oft: Mehr als die Juden den Sabbat bewahrten, habe der Sabbat die Juden bewahrt.

Der Sabbat: nur ein Vorgeschmack?

Dass ein solches Zeitkonzept, eine solche Zeitarchitektur, Jahrtausende überdauern konnte, ist tatsächlich ein Wunder. Und es wäre wertvoll, wenn wir gerade heute diesem Wunder etwas nachspüren würden, denn ganz offensichtlich steckt im Konzept des Sabbat eine grosse Kraft. Und vor allem steckt eine grosse Idee darin: Der homo oeconomicus mit seinem Nützlichkeitswahn ist am Sabbat entmachtet. Aber nicht nur das. Der Sabbat beinhaltet ein noch umfassenderes Versprechen - ein Versprechen für die kommende Zeit.

Sagten doch die Kinder der Welt einmal zu Gott: 'Sag uns wie die kommende Welt sein wird!' Worauf Gott antwortete: 'Ich habe euch doch schon den Sabbat gegeben. Der Sabbat schmeckt wie die kommende Welt.'

Auf der Suche nach den Zeitinseln

Der Sabbat als Vorgescmack auf die kommende Welt? Eine schöne Utopie vielleicht, aber etwas blauäugig? Auch wenn wir diese Utopie nicht teilen, könnten wir vielleicht entdecken, wie gut uns sabbatähnliche Zeitinseln tun würden - allein schon als Lockerungsübung gegen die innere Verspannung, die uns durch das  Zeitdiktat und die Effizienzjagd täglich beschert wird.

Eine Portion Sabbat könnte uns da vielleicht helfen. Mit einer Portion Sabbat gingen wir vielleicht anders durch die Welt und würden die Zeit anders anders erfahren. Die Zeit wäre so weniger Schrittmacher und weniger Mittel zum Zweck. Sie wäre vielmehr ein offener Raum; ein heiliges Fluidum, das uns atmen lässt.

Die Zeit ist so gesehen kein weltlich Gut, mit dem zu wuchern wäre. Sie ist vielmehr ein Geschenk, das zu feiern und zu würdigen ist - als heilige Dimension des Lebens. Hat Robert Walser vielleicht daran gedacht, als er in seinem Gedicht 'Gelassenheit' einst schrieb:

 

Seit ich mich der Zeit ergeben,

fühl' ich etwas in mir leben,

warme, wundervolle Ruh'.

Seit ich scherze unumwunden

mit den Tagen, mit den Stunden,

schliessen meine Klagen zu.

 

Wer wie Walser die Stunden nicht aus materialistischer Sicht betrachtet, dem erschliessen sich die Stunden als offene Räume, in denen man gar spielen und scherzen kann. Fast gar wie die Juden an ihrem heiligen Tag?

 

                      Philippe Dätwyler

Beitrag veröffentlicht am 8.Januar 1998

Feedback an den Autor

Zur Übersicht Thema Philosophie

Zum Diskussionsforum

Home

www.visionen.ch

Picture

Projekt zur Förderung von Innovation und Kreativität

Wir freuen uns über jede Anregung oder Hilfe
 zur Entwicklung dieses Experimentes :-)