Zwischen Katastrophe und Überfluss

 

Nachhaltige Energiezukunft
Seit 1950 hat sich der Weltbedarf an Energie vervierfacht. Für die nächsten 50 Jahre wird eine weitere Verdreifachung prognostiziert. Nur effiziente Nutzung und gerechte Verteilung können das Energiedilemma lösen, sagt der Zürcher Professor Dieter Imboden, Leiter der Strategie Nachhaltigkeit im ETH-Bereich.

Zwischen Katastrophe und Überfluss
Die fossile Energie war noch nie so billig wie heute. Abgesehen vom Ölpreisschock in den siebziger Jahren ist die Zeit seit dem zweiten Weltkrieg von einem stetig wachsenden Energieüberfluss geprägt. Vergessen sind der Club of Rome und die «Grenzen des Wachstums». Das globale Energiesystem verkraftete seit 1950 mühelos eine Vervierfachung des weltweiten Bedarfs von Primärenergie.

Heute nutzt jeder Mensch im Durchschnitt pro Jahr rund 18 000 Kilowattstunden an kommerzieller Energie, was im Mittel einer Energieleistung von 2000 Watt pro Kopf entspricht. Da unser physiologischer Energiebedarf ungefahr 100 Watt beträgt (wir nehmen über Nahrung pro Tag etwa 2500 Kilokalorien oder 10 Mio. Joule auf), stehen jedem Menschen quasi 20 «Energiesklaven» zur Verfügung. Wie hat doch der menschliche Erfindungsgeist die gesetzten Grenzen gesprengt!

Heutige Bedürfnisse befriedigen, ohne diejenigen zukünftiger Generationen zu gefährden
Wenn auch über 90% dieser Energie aus fossilen Reserven (Kohle, Erdöl, Erdgas) stammt, so ist von einer ernsthaften Verknappung keine Spur zu sehen. Im Gegenteil: Die Entdeckung neuer fossiler Energieressourcen - so in jüngster Zeit die riesigen Vorkommen sogenannter Methanhydridel in den Sedimenten der Tiefsee - schieben die errechnete theoretische Zeit für eine Erschöpfung der Energiereserven schneller in die Zukunft, als unser Energiehunger ihr folgen kann.

Es wäre sinnlos, den vielen Definitionen von Nachhaltigkeit noch eine weitere hinzuzufügen, nur schon deswegen, weil gerade die Nichtfassbarkeit des Begriffs zum Denken anregt. Die Botschaft der Nachhaltigkeit ist mehrdimensional wie ein Wort aus der Bibel, und jeder Versuch, sie auf eine einzige Definition, zu reduzieren, scheitert. Trotzdem gibt es durchaus Inhalte, welche obligatorischer Bestandteil des Begriffs sind. Sie kommen etwa in der bekannten Definition aus dem Brundtland-Bericht zum Ausdruck, wonach nachhaltige Entwicklung darin bestehe, die heutigen Bedürfnisse zu befriedigen, ohne diejenigen zukünftiger Generationen zu gefährden. So selbstverständlich dies klingen mag, wir scheinen einen Teil dieser Botschaft gerne zu verdrängen, weil es nicht nur um unsere eigenen Nachkommen geht, sondern auch um die zahllosen anonymen Mitmenschen, die bereits heute in vielen Teilen der Welt leben, darben und leiden.

Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der solaren Energie
Ist unser Umgang mit Energie nachhaltig? Die Geschichte der Menschheit war bis vor kurzem eine Geschichte der jahrtausendealten solaren, unkäuflichen bzw. unverkäuflichen Energie. Der Energiefluss von der Sonne lässt unsere Nahrungsmittel wachsen. Weil wir den direkten Energiestrom nicht schneller nutzen können, als er auf die Erde trifft, war die traditionelle Nutzung der solaren Energieflüsse im eigentlichen Sinne nachhaltig.

Der Pro-Kopf-Verbrauch in den USA beträgt durchschnittlich 10000 Watt, in Westeuropa 4000 bis 6000 Watt und in den Entwicklungsländern weniger als 1000 Watt. Da die kommerzielle Energienutzung weitgehend von den natürlichen (z.B. solaren) Energieflüssen entkoppelt ist, fast voll ständig auf nichterneuerbaren Ressourcen basiert und zu mehr als 75% in den Industrienationen stattfindet, muss unser aktuelles Energiesystem, was den zeitlichen und räumlichen Aspekt anbetrifft, als hochgradig nicht nachhaltig bezeichnet werden.

Es ist an der Zeit, die zweite grosse Energierevolution der Menschheit einzuleiten Studien über die Entwicklung des Energieverbrauchs bis zum Jahr 2050 prognostizieren Anstiege des totalen Primärenergieverbrauchs um den Faktor 2 bis 3. Wie aber soll dieser Bedarf zukünfig gedeckt werden? Am einfachsten lässt sich eine Energiezukunft vorstellen, in der auch zukünftig die fossilen Brennstoffe die wichtigste Energiequelle bilden. Die Reserven würden das noch weitere 100 Jahre zulassen. Aber die Klimawissenschafter warnen uns, der Ausstoss von Kohlendioxid als Folge des Verbrauchs fossiler Brennstoffe müsste halbiert werden, um einer Klimakatastrophe zu entgehen.

Weder Wasser- noch Kernkraft vermögen die dadurch entstehende Lücke kurzfristig zu decken. Die solare Energie ist zweifellos der Energieträger der ferneren Zukunft - so wie sie auch die Energie der Vergangenheit war. Ihr relativer Beitrag an die globale Energieversorgung kann aber auch unter optimistischen Annahmen kaum sehr gross werden, solange der Energiebedarf weiterhin um einige Prozente pro Jahr ansteigt.

Es gibt kaum etwas Dümmeres, als einen derart wertvollen Stoff wie Erdöl tonnenweise zu verbrennen
Das Problem unseres heutigen Energiesystems liegt gerade darin, dass wir nicht genau wissen, wo es zu lokalisieren ist und wann uns trifft. Was wir im Nebel der Zukunft sehen, sind die schattenhaften Umrisse verschiedener möglicher Hindernisse, von denen wir nicht wissen, ob sie sich dereinst als harmlose Hirngespinste entpuppen, denen unsere schöpferische Intelligenz mit Leichtigkeit ausweichen kann. Nur dass wir heute einen Apparat steuern, der für einen Kurswechsel Jahrzehnte benötigt. Es ist daher an der Zeit, die zweite grosse Energierevolution der Menschheit einzuleiten und die vielen phantasielosen Energiesklaven durch einige wenige intelligente zu ersetzen.

Es gibt kaum etwas Dümmeres, als einen derart wertvollen Stoff wie Erdöl tonnenweise in Motoren zu verbrennen, deren Erfindung auf das letzte Jahrhundert zurückgeht, und dabei mehr als 80% der Energie als Abfall in die Umgebung ab zuleiten.

Der ETH-Bereich hat sich im Rahmen der Strategie Nachhaltigkeit mit dem Projekt «Die 2000-Watt-Gesellschaft» zum Ziel gemacht, der anstehenden Revolution der effizienten Energienutzung zum Durchbruch zu verhelfen. Der zukünftige Energiebedarf hängt letztlich von der Entwicklung von grundlegend neuen Vorstellungen ab, wie die Bedürfnisse der Menschen, das heisst Wohnen und Arbeiten, Kommunikation und Mobilität, die Sicherstellung von Nahrung und Trinkwasser und die medizinischen und sozialen Netze, befriedigt werden können. Neue Konzepte müssen nicht notwendigerweise teurer sein als die bisherigen. Die Mobilisierung der Ressource «Mensch» spielt bei deren Implementierung mindestens eine so wichtige Rolle wie der Einsatz von finanziellen Ressourcen.

Das Forschungs- und Lehrnetzwerk der Schweizer Hochschulen von St. Gallen bis Genf, nun verstärkt durch die neuen Fachhochschulen, besitzt gute Voraussetzungen dafür, bei der Implementierung der 2000-Watt-Gesellschaft eine führende Rolle zu übernehmen und gemeinsam mit Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit die nötigen Ideen zu entwickeln und in die Praxis umzusetzen.

Mit Dieter Imboden sprach Franziska Zydek

Energie-Prognose für die nächsten 50 Jahre:

  • Die geographischen Unterschiede des Pro-Kopf-Verbrauchs kommerzieller Energie übersteigen den Faktor 100.
  • Prognosen zeigen, dass die hauptsächliche Bedarfssteigerung weiterhin in jenen Ländern stattfinden wird, in denen schon heute überdurchschnittlich viel Energie verbraucht wird, so dass sich das Gefälle zwischen Arm und Reich weiterhin vergrössert.
  • Ausser den fossilen Brennstoffen hat kein Energieträger das Potential, in einer Situation wachsenden Bedarfs innert 30 bis 50 Jahren signifikant zur Bedarfsdeckung beizutragen.
  • Alternativen, insbesondere erneuerbare Energieträger, haben nur dann eine Chance, wenn der Bedarf an Primärenergie nicht weiter zunimmt, sondern abnimmt. Die Schweiz als 2000 Watt-Gesellschaft Im Modell der 2000 Watt-Gesellschaft soll – bei gleicher Lebensqualität wie heute – der Primärenergieverbrauch pro Person 2000 Watt betragen. Heute liegt der Verbrauch in der Schweiz bei rund 6000, in den USA gar bei 10 000 Watt. Ein grosser Bruchteil dieser Energie geht bei der Umwandlung vom Energieträger (Erdöl, Kohle, Kernbrennstoffe etc.) in Leistung (Wärme, Geschwindigkeit etc) und bei der Verteilung verloren. Bei einem Kernkraftwerk zum Beispiel beträgt der Wirkungsgrad ein Drittel der Rest geht als Abwärme verloren. Ein Haushalt verliert sogar mehr Energie als er nutzt. Der Anteil der Nutzenergie an der insgesammt verbrauchten Primärenergie liegt heute bei nur 43 Prozent. Die Realisierung der 2000 Watt-Gesellschaft steht auf zwei Beinen:
  • Die Verluste bei der Umwandlung von Primär- zu Nutzenergie von 57 auf 40 Prozent senken.
  • Dank neuer Technologien den Bedarf an Nutzenergie bei gleichbleibenden Energiedienstleistungen halbieren. Die 2000 Watt-Gesellschaft im Internet: www.novatlantis.ch Buchtipps zum Thema: Ökoeffizienz Der amerikanische Umweltforscher Amory Lovins will den ökologischen Herausforderungen nicht mit Einschränkungen im Alltag begegnen sondern mit drastisch gesteigerter Ökoeffizienz. In seinem Buch «Faktor vier. Doppelter Wohlstand, halbierter Naturverbrauch» (Knaur Taschenbücher, Fr.19.-) hatte er gemeinsam mit seiner Frau L. Hunter Lovins und dem deutschen Gelehrten Ernst von Weizäcker dargelegt, wie man Kapitalismus und okonomisches Wachstum mit der strikten Respektierung der beschränkten Resourcen verknüpfen kann. Unterdessen hat Lovins diesen Gedanken weiterverfolgt und spricht unterdessen von den Faktoren «10 bis 100». Das heisst: um soviel grösseres Wachstum, grössere Gewinne durch geschlossene Kreiskäufe ohne Erzeugung von Schadstoffen und aubeutung von Naturgütern. Das setzt natürlich die Entwicklung von ökologischen Zukunftstechnologien und und wirtschaftliche Investitionen voraus. In seinem neuen Buch «Energie sparen. Vision: Verbrauch Null» (Campus Verlag, Reihe Expo 2000) das im September erscheinen wird geht Amory Lovisn gemeinsam mit Ko-Autor Peter Hennicke noch einen Schritt weiter.

Weitere Informationen unter www.osolemio.ch

 

Beitrag veröffentlicht am 18. Juli 2000

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